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IBM: East of IntelGastkommentar,
Linux-Magazin 04/2003
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Weitere Kommentare, Reden, Interviews |
Vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen. Analysten aber können es, vor allem im Kaffeesatz. Bill Claybrook, Research Director der Bostoner Aberdeen Group, betreibt diese Art der Analyse gründlich, und sein Rezept, so scheint es, hat ebenso wie bei der Sicherheits-"Studie" im Herbst 2002 wieder einmal zuverlässig funktioniert: Marktforscher bringen sich mit gewagten Thesen gekonnt in die Schlagzeilen, und ein Großteil der Journaille schreibt die "Studie" dankbar ab. Renommierte Wisssenschaftler hätten's ja bewiesen.
Claybrook sieht in seiner Studie "An Assessment of IBM's Enterprise Linux Strategy" bei Big Blue in Sachen Linux mehr Schein als Sein. So gäbe es heute mittels Linux und darauf aufsetzender Software nur wenig Durchgängigkeit über die vier Hardware-Plattformen der IBM hinweg, wenn denn überhaupt. Auch bemängelt er, dass IBMs Cross-Plattform-Portfolio an Middleware gegenwärtig nicht auf allen Plattformen flächendeckend verfügbar ist, und es in etlichen Fällen wohl auch nie werden wird. Wirklich Sinn mache Linux sowohl für Kunden als auch für Big Blue selbst nur auf der Intel-Familie. Aus der Traum also vom Plattform-übergreifenden Angebot, denn jenseits von Intel mache die Linux-Veranstaltung weder für IBM noch für deren Kunden sonderlich viel Sinn.
Recht hätte er wohl, wenn jede der vier Hardware-Plattformen für jede Anwendung gleichermaßen geeignet wäre, wenn sie überdies in allen Marktsegmenten etwa gleiche Marktanteile hätten, und wenn es keine spezifischen Stärken und Schwächen jeder einzelnen Rechnerfamilie gäbe. Doch welchen Sinn macht es eigentlich, Systeme wie die AS/400 (iSeries) rundum zu verlinuxen, obwohl das Ende ihres Lebenszyklus für jedermann sichtbar ist? Und welche Weisheit liegt darin, dem Kunden für irgendeine Plattform bestimmte Aufgaben-spezifische Werkzeuge anzubieten, obwohl diese Plattform für die betreffende Aufgabe bestenfalls dritte Wahl ist? Selbstverständlich kann man auch mit einer Kamera Nägel in Rigipswände schlagen, um Familienfotos daran aufzuhängen. Doch auf die Idee, das Kameragehäuse für diesen Zweck zu verstärken, kämen wohl nur Analysten.
Plattform-übergreifende Homogeneität durch Linux ist ein cleveres Marketing-Argument, und gehört auf Kundenseite besonders kritisch hinterfragt. Bei genauem Hinsehen ist aber gar nicht Linux die Wunderwaffe, sondern der wahre Kern der Dinge liegt für den Anwender meist eine Betrachtungsebene höher. Wenn es um Server-Middleware geht, für die der Quellcode nicht nur verfügbar, sondern bereits portiert worden ist, dann kann es dem Kunden ziemlich gleichgültig sein, ob sein Sendmail oder sein Apache mit PHP und Perl unter Linux läuft, unter AIX oder Solaris. Und der Prozessor spielt dabei schon gar keine Rolle. Durchgängigkeit und Plattform-Unabhängigkeit spielen sich dann ganz eindeutig oberhalb der Betriebssystem-Ebene ab, wenngleich Unix oder Linux als stabile Plattform natürlich nicht schadet.
Wie Bedenkenträgerei wirkt auch die Warnung der Bostoner vor der nicht durchgängigen Verfügbarkeit der Redhat-, Suse- und Turbolinux-Distributionen über das gesamte IBM-Hardware-Spektrum hinweg. Das trifft zwar zu, doch letztlich ist der wirklich substanzielle Unterschied zwischen zwei Releases desselben Herstellers mitunter größer als der Unterschied zwischen zeitgleich erscheinenden Konkurrenz-Distributionen. Wer für "seine" Plattform kein "Linux A" bekommt, der nimmt eben "Linux B". Niemand muss die Führerschein-Prüfung erneut ablegen, nur weil er von einem Coupe mit Schiebedach auf ein Cabrio umsteigt.
Wenn Peter Kastner, Chief Research Fellow bei Aberdeen, zu bedenken gibt, jeder IT-Verantwortliche müsse überlegen, wie inhomogen Linux denn innerhalb des Unternehmens sein dürfe, so hat er zunächst einmal grundsätzlich Recht. Gleichzeitig muss er sich aber fragen lassen, wie weit er denn mit der täglichen IT-Praxis vertraut ist, und welche Maßstäbe er für "Homogeneität" anlegt, denn die Frage nach Hetero- oder Homogeneität stellt sich nicht primär angesichts des Unterschieds zwischen Intel- und nicht-Intel-Linux.
Wie homogen ist die Landschaft denn noch, wenn Suse 8.0 auf dem einem Intel-PC von DVD installiert, und danach in diesem Zustand belassen wurde, während der zweite PC auf dem Schreibtisch nebenan die jeweils neuesten Updates für 8.0 von Suse's FTP-Server erfuhr? Ohne den Quell-Code mitzurechnen, sind bis Anfang Februar 2003 knapp 2 Gigabyte an Updates allein für Suse 8.0 erschienen.
Oder sind zwei Windows-PCs noch homogen, wenn auf dem einen das Service Pack 1 installiert ist, auf dem anderen hingegen Service Pack 2, was nicht selten einen Austausch des kompletten Basis-Betriebssystems gleichkommt? Für das Auge des Betrachters mag der Unterschied gering sein, doch technisch gesehen liegen oft Welten zwischen der Software-Ausstattung dieser Rechner.
In einem Interview mit advisor.com sorgt sich Kastner um IBM's Abhängigkeit von Linux Distributoren wie Redhat, Suse, SCO und Turbolinux, wenn es darum geht, Plattform-übergreifende Linux-Durchgängigkeit herzustellen. Dass bei Big Blue's Marktmacht eher umgekehrt ein Schuh draus wird und der Gigant die Distributoren mit sanftem Nachdruck auf den Pfad der Tugend bringen könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Die IBM-Beteiligung bei Suse spricht indes Bände, und der eine oder andere kleine Fortschritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden der Linux-WG mag damit wohl auch zusammenhängen. Und was für Suse gilt, das gilt allemal für jene Distributoren, die mittlerweile unterhalb der Wahrnehmungsschwelle angekommen sind, und die es nur durch fortwährende Namensänderungen schaffen, in den Medien überhaupt noch erwähnt zu werden.
Eher als Kastner's Sorge um Abhängigkeit greift da schon die Kritik, weder Fremd-Software noch IBM-Middleware seien flächendeckend für den kompletten IBM-Hardware-Zoo verfügbar. Doch wie immer, lohnt auch hier ein Blick hinter die Kulissen. Die Frage, auf welches der vier IBM-Linuxe die ISVs denn ihre Software zuerst oder überhaupt portieren sollen, ist aus der Sicht dieser Hersteller schnell beantwortet: Natürlich auf die Plattform, die für den Anwendungszweck am besten geeignet ist, die kein toter Gaul, und die im betreffenden Anwendungsgebiet oder in der Ziel-Branche hinreichend verbreitet ist. Nach einer Portierung auf diese Plattform stellt dann die Portierung auf die anderen Linuxe ohnehin keine große Herausforderung mehr dar, sofern die Software auch nur halbwegs vernünftig geschrieben ist.
Dass RS/6000-Maschinen (pSeries) mit AIX5L ("L" wie "Linux") obendrein Linux-Schnittstellen bieten, weist auf den Beginn eines Verschmelzungs-Prozesses zwischen AIX und Linux hin und lindert Portierungs-Schmerzen ganz beträchtlich, wenn der ISV ohnehin in der AIX-Welt zuhause ist. Ob der RS/6000-Kunde auf dieser Hardware hier und heute nun unbedingt Linux statt AIX braucht, darf andererseits bezweifelt werden, denn schätzungsweise mehr als 90% der Open Source Software, die auf Linux-CDs enthalten und für Server relevant ist, wurde ohnehin schon längst auf AIX, Solaris und andere Unices portiert -- oder kommt sogar ursprünglich aus einer dieser Welten. Dort, wo Server-Anwendungen primär Open-Source-basiert sind, dürften AIX und Linux ziemlich austauschbar sein, solange die verwendete Hardware von beiden adäquat unterstützt wird.
Wenngleich Linux in den Augen vieler eher ein Konkurrent für Unix ist als für Windows, so finden die von Analysten ebenso wie von Journalisten geliebten Betriebssystem-Kriege schlichtweg nicht statt. Gerade bei AIX und Linux ist vielmehr ein Verschmelzungs-Prozess im Gange, der letztlich auf eine sanfte Zusammenführung beider Linien hinausläuft, ähnlich, wie er vor mehr als einem Jahrzehnt zwischen Berkeley- und AT&T-Unix stattgefunden hat. Dass Linux für IBM "der logische Nachfolger" ist, bekräftigte Ende Januar 2003 auch Steve Mills, Senior Vice President der IBM Software Group, doch Linux werde "nicht über Nacht die Rolle von AIX einnehmen".
Eine Nacht-und-Nebel-Aktion ist auch gar nicht nötig, denn Linux und AIX sind schließlich Angehörige des gleichen Clans: "Unix" ist der Familienname, "AIX" und "Linux" sind die Vornamen, und zwischen den Brüdern geht es denn auch genauso zu wie im richtigen Leben. Mal streitet man sich, aber sehr viel häufiger schreibt man bei den Hausaufgaben voneinander ab, weil's eben Zeit spart. Und was am Ende dabei herauskommen wird, ist ein erfolgreiches Familienunternehmen, das unter einem einzigen Namen firmiert. Oder erinnert sich etwa in der Fliegerei noch jemand an die Vornamen der Gebrüder Wright?
Doch nicht nur von der Aberdeen Group ist Ungereimtes zu lesen, denn spätestens beim Thema "Linux contra Unix" bekommt die Sichtweise etlicher Analysten einen gewissen Unterhaltungswert. Sobald es darum geht, Unix-Vorteile gegenüber Linux zu benennen, ist fast unisono, und durchaus ernst gemeint, zu hören, Unix unterstütze eben auch 16 bis 64 Prozessoren, oder gar mehr. Die hierdurch möglich werdenden High-End-Server ließen sich dann, ähnlich wie Mainframes, wiederum in mehrere Partitionen aufteilen, von denen jede nur einen Bruchteil der CPUs umfasst. -- Na immerhin, der Analyst hat sich "bemüht", und zwar im Sinne der Formulierung, wie sie in Arbeitszeugnissen vorkommt.
Und die Moral aus der Claybrook'schen IBM-Studie? Wer dessen Vita liest, der sieht sehr schnell, dass dieser Mann über einen beneidenswerten Hintergrund verfügt, der das Gros der Analysten ziemlich alt aussehen lässt. Doch hier hat er womöglich seinen Namen allzu bereitwillig unter das gesetzt, was ihm weniger begnadete Mitarbeiter zugearbeitet haben.
Dass solche Studien zudem nicht aus purer Langeweile, sondern gegen Bares erstellt werden, dürfte auch kaum überraschen.
Eitel Dignatz ist Strategieberater und Inhaber der Münchner Unternehmensberatung Dignatz Consulting.
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